Die Systeme der strategischen Luftverteidigung wurden im Schichtsystem 24/7 betrieben. Von Anfang der 1960 Jahre bis 1992 war der Schichtdienst im Alarmstatus gelebte Realität der Luftwaffensoldaten. Jedes dritte Wochenende Dienst war auch für die Familien nicht immer einfach. Aber es was nun mal nötig.


Hier berichtet ein Kamerad aus dem Waffensystem NIKE-HERCULES anschaulich aus dieser Zeit. So oder ähnlich lief es in vielen Schichten in den Systemen NIKE, HAWK, TMLD und Radarführungsdienst ab.


Aber lassen wir nun Axel W. zu Wort kommen.......







Vier Jahre hinter NATO- Stacheldraht

oder

Eine ganz normale Wochenendschicht




Prolog


Der 65ger Ford Galaxie 500 mit seiner V8 Maschine blubbert mit 55 Meilen pro Stunde auf der Interstate 10 in Richtung Los Angeles. Vor uns liegt ein verlängertes Wochenende, das wir für eine Fahrt nach LA und San Diego nutzen wollen. Um 16.00 Uhr sind wir von der Raketenschule der Luftwaffe (RakSLwUSA) in El Paso, Fort Bliss, Building 512, Texas, aufgebrochen und wollen die 800 Meilen in einem Stück durchfahren. Wir, das sind Ralf, Kurt, Marek und ich, sind zurzeit für den FlaRak-Uffz-Lehrgang am Waffensystem Nike-Hercules von unseren deutschen Einheiten hierher abkommandiert worden. Die Wüstenlandschaft, links und rechts des Highways ist öde und eintönig. Aus dem Autoradiolautsprecher erklingt gerade Crystal Gayle´s zauberhafte Stimme und schmeichelt sich über mein Ohr in die musikalischen Zellen, Abteilung Lieblingssongs, meines Langzeitgedächtnisses ein.


I don´t know when i´ve been so blue

Don´t know what´s come over you

You´ve found someone new

And don´t it make my brown eyes blue.



Wunderschön, dieser Hit läuft mindestens 10 Mal am Tag und wird von allen Rundfunkstationen hier im Westen Amerikas gespielt.

Hinter Phoenix im Bundesstaat Arizona zieht der Wagen plötzlich nach rechts. Ralf fährt das Auto auf den Seitenstreifen. Hier gibt es auf dem Highway nicht wie an unseren deutschen Autobahnen Leitplanken. Wir steigen aus und sehen, dass der hintere rechte Reifen platt ist. Einer von den drei Reifen, die wir extra in El Paso für die Fahrt von einem Reifendienst haben montieren lassen. Um Geld zu sparen, haben wir gebrauchte Reifen für einen Stückpreis von 5 Dollar gekauft. Das war wohl ein Fehler. Auf meiner Armbanduhr ist es jetzt 23.34 Uhr, eine helle Vollmondnacht, so dass wir die nähere Umgebung schemenhaft erkennen können. Wir sind allein, weit und breit kein Licht einer menschlichen Ansiedlung zu sehen. Ab und zu donnert ein Truck vorbei. Marek macht die Heckklappe des Autos auf und sucht nach dem Wagenheber. Vergeblich, es stellt sich heraus, dass kein Wagenheber vorhanden ist. Und nun? Einer kommt auf die Idee, wir sollten mit Muskelkraft versuchen das Auto hochzuheben, um den Reifen wechseln zu können. Erstmal holen wir das Reserverad raus und legen es neben dem Wagen bereit. „So“, sagt Ralf: „Zugleich, hebt an“! Aber wir können die Autokarosserie nur ein paar Zentimeter aus der Federung anheben. Das Rad bleibt fest auf dem Boden stehen. So wird das nichts. Vielleicht funktioniert es mit einem dicken Ast als Hebel. Hier liegt doch genug Zeug herum. Ralf und ich gehen 20 Meter in die Wüste hinein, und tatsächlich finden wir einen dicken Knüppel. Gerade als ich ihn aufnehmen will, höre ich ein Rasseln, und schon spüre ich einen stechenden Schmerz oberhalb des Handgelenks. Im Mondlicht sehe ich eine Schlange, die sich erstaunlich schnell entfernt. Der Schlangenbiss brennt höllisch, der Unterarm schwillt sofort an, und mir wird schwarz vor Augen. Taumelnd gehe ich von Ralf gestützt zurück zum Auto. Als ich mich ins Wageninnere setze, wird mir erst richtig bewusst, wo ich mich befinde, nämlich in der Wüste Arizonas, im „Wilden Westen“, weitab einer Stadt mit Krankenhaus und ärztlicher Versorgung entfernt.






30. Juni 1978


Wieder einmal ist eine Fußballweltmeisterschaft vorbei, es ist Freitagvormittag und ein wunderschöner, warmer Sommertag in der Wesermarsch, dem Landkreis zwischen Jadebusen und Weser. Im Autoradio höre ich Udo Jürgens „Buenos Dias, Argentina“, das Lied zur WM 78, singen. Leider ist unsere Fußballnationalmannschaft schon recht früh ausgeschieden und musste ohne den heißgegehrten Titel wieder nach Hause fahren. Argentinien ist letzten Sonntag im Endspiel gegen die Niederlande neuer Fußballweltmeister geworden. 77 000 Menschen waren im Stadion in Buenos Aires und konnten das 3:1 live miterleben. Schön, dass ich letztes Wochenende schichtfrei hatte und das Spiel in aller Ruhe im Fernsehen anschauen konnte. Heute ist Freitag der 30. Juni 1978, und ich bin gerade auf dem Weg in meine Kaserne, um eine 72-stündige Wochenendschicht anzutreten. Gerade fahre an unserer Nachbareinheit vorbei. Sie gehört zum 26.ger Bataillon und befindet sich in der Nähe des kleinen Marschendorfes Rodenkirchen. Eigentlich wollte ich hier meine Dienstzeit verbringen, aber die Herren des Abschleusungskommandos, die kurz vor Ende der Grundausbildung in Goslar die neuen Standorte zuwiesen, wollten das nicht. Ursprünglich sollte ich nach Süderbrarup in Schleswig Holstein, aber das konnte ich im Gespräch erfolgreich verhindern. Der Deal war, ich verpflichte mich für 4 Jahre bei der Bundeswehr, wenn ich dafür heimatnah eingesetzt werde. Heraus kam der Standort Elsfleth, zirka 35 Kilometer von meinem jetzigen Wohnort entfernt.


Mein Name ist Axel Wehpunkt, vor kurzem zum Unteroffizier befördert und schon seit 2 Jahren in der IFC- B-Crew beim 1. Flugabwehrraketen-Bataillon 24 in Elsfleth im Dienst. Unsere Einheit ist Bestandteil eines Raketenverteidigungsgürtels gegen Angriffe in mittleren und großen Höhen, der sich von Nord nach Süd über die gesamte Bundesrepublik erstreckt. Von Mittwoch 13.00 Uhr bis heute 10.00 Uhr hatte ich schichtfrei und ein paar entspannte Tage zu Hause. Unsere Einheit ist im 24-stündigen Luftverteidigungseinsatz, das heißt, in den Stellungsbereichen befinden sich immer einsatzbereite Kampfbesatzungen. Aber dazu komme ich später.


Die Wesermarsch-Kaserne in Elsfleth-Lienen, Watkenstraße 5a, kommt in Sicht. Gebaut wurde diese Kaserne Anfang der 60ger Jahre mit in dieser Gegend üblichen roten Klinkersteinen. Ich biege in die Zufahrt des Kasernengeländes ein, und halte am Wachlokal. Der Torposten lässt sich den Truppenausweis zeigen, dreht die „symbolische Durchfahrsperre“ zur Seite und salutiert. Die Einheit ist überschaubar, hat Kompaniestärke, und es herrscht meistens ein angenehmer Umgangston. Von der Wache fahre ich direkt auf die Küche mit dem großen Speisesaal und die UHG zu. Rechts davon befindet sich die Fahrbereitschaft mit den Fahrzeughallen und Werkstätten. Ich biege nach links in den Weg ein, vorbei an dem Gebäude der Amerikaner und dem Offiziersheim auf der linken Seite, rechts von mir Block C, weiter zum Unterkunftsbereich Block A. Die Amerikaner, es sind ungefähr 30 Soldaten, sind hier in der Kaserne völlig autark und unter sich. Es ist zwar nur ein einzelnes Gebäude, aber quasi eine Kaserne in der Kaserne, und alles von der Küche, Waffenkammer, Schlafräume bis zur Bar ist dort komplett vorhanden. Im Abschussbereich (LA) bewachen die amerikanischen Sicherungssoldaten die atomaren Gefechtsköpfe, die in Sektion Charly unter besonderen Sicherheitsmaßnahmen gelagert werden.


Mit meinem hellblauen Ford Escort fahre ich bis vor das Gebäude und stelle das Fahrzeug auf dem Parkplatz ab. Als ich aussteige sehe ich den Chef der Fernmelder, die Fernmeldevermittlung befindet sich hinter Block A, Oberleutnant Schäfer, genannt „Hein Werkzeug“, herantraben. Eine sehr ungewöhnliche soldatische Erscheinung! Wenn ich ihn sehe, denke ich immer gleich an meinen Opa, der sieht im Gesicht auch so alt aus. Aber mein Opa ist schließlich auch 78 Jahre alt! „Hein Werkzeug“ hat immer diese merkwürdigen Hosen an, die ganz weiten mit den riesigen Taschen links und rechts außen an den Beinen. Und die sollen angeblich mit Werkzeug und Material gefüllt sein, sagt der Buschfunk. Deshalb auch der treffende Spitzname für diesen Elsflether Uniformträger. „Moin, Herr Oberleutnant“ „Moin, moin“, sagt er, schaut aber nicht einmal her, und weg ist er schon wieder.


Zuerst gehe ich in meine Stube und mache das Fenster auf. Die Ausstattung des Raumes ist völlig spartanisch und ohne persönliche Note, geschlafen habe ich hier schon Monate nicht mehr, weil ich einen Heimschäferstatus besitze. Der Spind ist mit einem Vorhängeschloss gesichert. Die Stube ist ständig unbewohnt und wird deshalb kaum gelüftet. Dementsprechend riecht es hier momentan auch ganz klassisch nach Bundeswehr-Mief. Es ist eine Mischung aus Männerschweiß, getragenen Socken, Leder, Bohnerwachs und Waffenöl. Und dann immer wieder diese Gebilde aus Staub und Wollfäden auf dem Fußboden, besonders in Ecken zu finden, von uns kurz „Natomäuse“ genannt. Seit der Grundausbildung sehe ich sie immer wieder überall in den Stuben, trotz ständigem Ausfegen und Wischen.


Hier im Block A sind die Kameraden aus dem Feuerleit- und dem Abschussbereich untergebracht. Außerdem hat der Nachschub in diesem Gebäude seine Büros, Lager sowie die Waffenkammer. Im Block B befinden sich die Büros des Batteriechefs, Batteriefeldwebels, Rechungsführers, der Personalhauptverwaltung und des Sanitätsdienstes. Hier sind auch die Stuben der Innendienst-Soldaten. Der Block C ist für den Sicherungszug vorbehalten und auch der ABC-Feldwebel hat hier seine Diensträume. Irgendwo sind hier auch noch zwei Unteroffiziere untergebracht, die sich um die MK20`s kümmern. Das sind Maschinenkanonen vom Kaliber 20mm, die für den Objektschutz in den Stellungsbereichen eingesetzt werden, sollte es mal Ernst werden.


So, nun wird es für mich langsam dienstlich. Es ist kurz vor 10.00 Uhr und ich schaue, ob meine Crew schon vollzählig eingetrudelt ist. Die Mannschaftsdienstgrade sammeln sich immer auf einer großen Bude, die im „Originalton Bundeswehr“ natürlich STUBE heißt, in der Nähe des linken Eingangsbereiches. Der lange Udo aus Hemer, Unteroffizier wie ich, erzählt gerade, wie er die freien Tage zu Hause verbracht hat. Muss schön gewesen sein, dem Lächeln in seinem Gesicht zu urteilen. Die Jungs haben ganz andere Anreisewege zu bewältigen als ich. Viele sind 2 bis 3 Stunden mit dem Auto oder der Bahn unterwegs gewesen und kommen aus Nordrhein-Westfalen. Es ist deutlich am Dialekt zu hören. Norddeutsche Küstenbewohner, wie ich, sind deutlich in der Minderzahl. Im Schichtfrei fahren fast alle immer heim. Ich frage mich, wie die Wehrpflichtigen das bei den hohen Benzinpreisen finanziell auf die Reihe kriegen. „Ist Theo auch schon da“, frage ich Udo. „Jooo, der müsste jetzt auf seiner Hütte sein. Ist gestern Abend schon mit dem Zug aus Neuss gekommen“. „Sag mal Axel, hast du auch den Opel Kadett auf unserem Parkplatz gesehen? Gehört dem Freddy, dass die alte Karre es immer noch von Düsseldorf hierher schafft“. „Nein, habe ich nicht“, antworte ich. „Schrotthaufen“, sagt Udo, dreht sich um und geht aus dem Raum.

Ab jetzt läuft ein Programm ab, das sich vor jedem Schichtantritt wiederholt. Die Vollzähligkeit der Crew wird festgestellt, die Mannschaftsdienstgrade reinigen die zugewiesenen Reviere, die Unteroffiziere führen Dienstaufsicht, und ich gehe zum Spieß, um die Kampfbesatzung anzumelden und sonstige administrative Dinge zu erledigen.


Hauptfeldwebel Otter, Batteriefeldwebel oder auch Spieß genannt, ist in seinem Zimmer und macht heute mal wieder auf knallharten Kämpfer. Im Grunde ist er aber ein ganz Netter und lässt uns größtenteils in Ruhe. Also mache ich erst mal eine zackige Ehrenbezeugung und melde ihm die Kampfbesatzung B vollzählig zum Dienst erschienen. Im allgemeinen Sprachgebrauch sagen wir aber immer Crew und nicht Kampfbesatzung. Überhaupt haben sehr viele amerikanische Begriffe in unserer Sprache einen festen Bestandteil gefunden, vermutlich weil es ein amerikanisches Waffensystem ist, und viele Kommandos und Begriffe in einer Art Kauderwelsch aus Deutsch und Englisch bei der Arbeit am Waffensystem ständig verwendet werden.


Danach gehe ich noch beim Rechnungsführer vorbei, der im Büro gegenüber untergebracht ist, und kaufe mir neue Essenmarken. Mittlerweile ist es 10.30 Uhr geworden, und ich schaue ein bisschen beim Revierreinigen zu. Natürlich klagen die Mannschaften auch heute wieder darüber, dass sie hier reinigen müssen, aber gar nichts dreckig gemacht haben. Ich verstehe sie. Auch ich habe mich immer darüber geärgert, als ich noch Mannschaftsdienstgrad war und hier putzen musste. Aber Befehl ist Befehl, und der muss wohl oder übel ausgeführt werden. Nach der Abnahme der Reviere haben alle noch ein wenig Zeit, um die eigenen Sachen zu ordnen und sich auf die Schicht vorzubereiten. Die Seesäcke sind schon gepackt. Es herrscht Aufbruchstimmung. Heute müssen wir alle noch zur Wachbelehrung in den U-Raum Block A. Feldwebel Knösel, die „Kampfsau vom Dienst“ wie er hinter vorgehaltener Hand genannt wird, ein begnadeter Soldat mit beeindruckendem Infanteriewissen, berichtet von möglichen Überprüfungen der Wachen in den Stellungsbereichen durch das Regiment. Es ist darauf zu achten, dass der oder die Überprüfer sich legitimieren und der Truppenausweis genauestens geprüft wird. Nach 10 Minuten ist er mit seinen Themen durch. Mein Magen meldet sich mit einem Knurren und weist mich dezent darauf hin, dass es an der Zeit ist, die Küche aufzusuchen.


Die meisten gehen jetzt selbstständig zur Küche, um dort das Mittagessen einzunehmen. Manche suchen aber auch die Kantine auf, um Currywurst mit Pommes oder ein Schnitzel zu essen. Das bleibt jedem selbst überlassen. Das Essen in der Küche ist übrigens sehr gut. Hier wird noch mit Liebe für uns gekocht. Überhaupt haben es die Kasernensoldaten, was das Essen anbelangt, viel besser als wir draußen in der Stellung. Drinnen wird das Essen in der Unteroffiziersmesse von den Küchenhelferinnen heiß auf einem Teller am Tisch serviert. Für uns draußen in den Stellungsbereichen füllt die Küche das heiße Essen in geschlossene Thermobehälter. Während des Transports kondensiert der Dampf wieder zu Wasser und ganz besonders schlimm sehen dann z.B. gekochte Kartoffeln aus. Die unterste Schicht schwimmt regelrecht im Behälter. Und richtig heiß ist das Essen durch den langen Transport per LKW auch nicht mehr, so wie es eigentlich sein sollte. Ausgeteilt wird das Essen draußen vom Küchendienst, und jeder reiht sich in die Warteschlange ein, egal ob man Kanonier oder Hauptmann ist.


Nach der Mahlzeit geht’s zurück zum Block A um unsere Sachen zu holen und danach zur Wache. Dort warten wir auf den Bus, der uns in die Feuerleitstellung bringen wird. Wir haben alle einen Seesack, die ABC-Schutzausrüstung und den Stahlhelm dabei. Da stehen wir nun und schauen zu, wie der Torposten seinen Job macht. Überhaupt ist das Warten für einen Soldaten ein wesentlicher Bestandteil seiner Ausbildung. Wer als junger Soldat das Warten noch nicht richtig beherrscht, kann sich in dieser Disziplin schnell perfektionieren, denn man bekommt bei der Truppe jeden Tag Gelegenheit dazu. Warten ist des Soldaten meistgeübte Tugend, so könnte man es poetisch formulieren.


Nach 8 Minuten kommt Hauptgefreiter Naase mit seinem uralten Mercedes-Bus angebraust. Er ist SAZ 12 in der Fahrbereitschaft und Vertrauensmann für die Mannschaftsdienstgrade. Das erste, was er jedes Mal sagt, nachdem die Tür geöffnet wird, ist: „Macht mir nicht den Bus kaputt! Nehmt das Gerödel von den Schultern. Passt auf Leute, sonst könnt ihr zur Stellung laufen“.  Wir alle lieben unseren Manni, so heißt er nämlich mit Vornamen, und versuchen, sein Museumsstück nicht zu beschädigen. Für einen Hauptgefreiten hat der `ne ganz schön große Klappe.


Die Abschusscrew und die Sicherungssoldaten fahren heute mit dem neuen Bus in ihren Stellungsbereich. Manchmal erfolgt der Transport auch mit einem LKW. Ich setze mich im Bus zu Theo. „Na, Tango Tango, wie stehst? Alles Roger in Kambodscha?“ Und schon sieht er mich finster an. Nein, natürlich nicht. Wer zieht bei diesem traumhaften Sommerwetter schon gern auf Wochenendschicht? Keiner!  Nun geht es endlich los. Es ist jetzt kurz nach 11.35 Uhr, und wir fahren den uns wohlbekannten Weg durch die Kleinstadt Elsfleth in Richtung Huntebrücke der Stellung zu. Vor der Huntebrücke geht es rechts ab. Die Landschaft wird karger, die Häuser seltener, man sieht nur noch vereinzelt Gehöfte. In Mooriem, genauer gesagt in Burwinkel angekommen, zweigt links eine gepflasterte Straße ab. Hier biegen wir ein und wieder einmal muss unser Fahrer alles geben, um den verflixten zweiten Gang in das richtige Zahnrad des Getriebes zu schieben. Diesmal ist es nur mit dreimaligem Zwischengas möglich. Manni flucht!


Der Ortsname „Mooriem“ sagt eigentlich alles aus. Moorflächen soweit das Auge sehen kann. Die meisten Flächen werden von umliegenden Bauern landwirtschaftlich genutzt. Es sind vereinzelnd auch schwarzbunte Rinder zu sehen. Am Horizont, grobe Richtung Oldenburg, der Sendeturm in Wahnbek gut zu erkennen. Schon nach wenigen Augenblicken sehen wir zur Linken die LA (Launching Area). Hier ist alles von mit Stacheldraht bewehrten Maschendrahtzäunen umgeben. Den Abschussbereich kenne ich eigentlich nur vom Vorbeifahren. Ich weiß zwar rudimentär, was hier technisch abläuft und welche Strukturen vorhanden sind, aber außer von Übungen oder kurzen Besuchen kenne ich den Bereich nicht. Wie schon gesagt, gibt es auch eine Handvoll amerikanischer Soldaten, die die Atomsprengköpfe der Raketen bewachen. Das wird aber bald Geschichte sein, denn die AGK’s, so heißen die Atomgefechtsköpfe im Umgangston, werden abgezogen, und somit werden uns unsere amerikanischen Verbündeten bald verlassen. Neulich habe ich einen Film über die Spätfolgen des Atombombenabwurfs von Hiroshima im Fernsehen gesehen. Die 13 Kilotonnen TNT Sprengkraft große Atombombe „Little Boy“ tötete 100 000 Menschen sofort und weitere 130 000 starben bis Ende 1945 an den Folgen der Verbrennungen und Verstrahlungen. Die Menschen leiden noch heute. Wenn man sich vorstellt, diese Tod und jahrzehntelanges Elend bringende Waffe ist direkt hinter einem dieser Erdwälle eingelagert und liegt bereit für den Einsatz........ Es kann einem bei diesem Gedanken schon kalt über den Rücken laufen. Eigentlich müsste man sich augenblicklich zum Pazifismus bekennen. Schon 1 Minute später habe ich es mir aber wieder anders überlegt. Ich bleibe doch Soldat. Ich denke, es ist richtig, was wir hier tun. Wir halten als Bestandteil der Streitkräfte einen Teil des Gegengewichts gegen die Bedrohung durch den Warschauer Pakt in unseren Händen. 


Mit diesen Waffen verteidigen wir die Freiheit Europas.


Die Straße führt direkt an einem der Wachtürme der Launching Area vorbei. Die Jungs vom Sicherungszug müssen da oben sitzen und aufpassen, dass keiner die Raketen klaut. Spaß beiseite. Das ist kein leichter Job. Es hat schon Fälle gegeben, da sind Wachsoldaten dort oben durchgedreht und haben um sich geschossen. Einer soll sich auch erschossen haben. Aber Gott sei Dank nicht bei uns. Allerdings ist vor kurzem bei einer Kontrolle der Munition heraus gekommen, dass die da oben vermutlich aus Langeweile oder aus anderen Gründen das Schwarzpulver aus den Hülsen gegen Sand ausgetauscht haben. Jetzt sind die Ersatzmagazine in Folie verschweißt und verplombt, und jeder nicht verplombte Schuss wird beim Wachwechsel peinlichst genau untersucht.


Eine Rakete ist in Sektion „Charley“ aufgerichtet. Wahrscheinlich wird daran gearbeitet, aber das kann man wegen der Gebäude und den Erdwällen nicht genau sehen. Die Rakete sieht von hier nicht so groß aus, hat aber eine Länge von 12,53m und ist 4850kg schwer. Die Reichweite beträgt ungefähr 140 Kilometer im Boden/Luft-Einsatz und im Boden/ Boden-Einsatz 180 Kilometer. Die Rakete kann mit einem konventionellen Gefechtskopf mit TNT oder mit nuklearen Gefechtsköpfen verschiedener Größen bestückt werden. Die verbesserte Nike-Hercules Rakete mit Feststoffantrieb ist seit1965 auch in den deutschen Einheiten stationiert. Vorher wurde die Nike Ajax, eine Rakete, die mit Flüssigtreibstoff betankt werden musste, verwendet. Das Betanken soll saugefährlich gewesen sein. Die Nike Hercules besteht aus Gefechtskopf, Marsch- und Starttriebwerk, ganz viel Elektronik und Lenkelementen, grob vereinfacht gesagt. Das Starttriebwerk (Booster) fällt schon nach 3,4 Sekunden ab, deshalb wird die Rakete auch nur auf 87 Grad aufgerichtet. Bei 90 Grad Aufrichtung könnte nämlich der Booster nach dem Ausbrennen zurück in den Abschussbereich fallen, was natürlich unbedingt vermieden werden muss. Das Marschtriebwerk brennt 29 Sekunden. Die Rakete wird mit 3,65 Mach Geschwindigkeit ins Ziel gebracht.


Nach 17 Kilometern Fahrt sind wir an unserem Ziel angekommen. Landschaftlich befinden wir uns inmitten des Ipweger Moores. Die Moorschicht soll hier eine Stärke von 12 Metern haben. Deshalb stehen alle Geräte und Antennen des Waffensystems auf pfahlgegründeten Betonplatten. Unser Feuerleitbereich, englisch Integrated Fire Control (IFC) ist auch durch einen Maschendrahtzaun mit Stacheldrahtbewehrung gesichert. Der Draht ist schon stark angerostet und man kann ein großes Verbotsschild erkennen, auf dem steht: MILITÄRISCHES SPERRGEBIET. FOTOGRAFIEREN VERBOTEN. DER STANDORTKOMMANDANT. Der Wachsoldat ist schon zum Tor gekommen, um uns einzulassen. Am Tor ist eine winzige Schutzhütte, in der das Zutrittskontrollbuch und die Sicherheitsausweise gelagert werden. Der Torposten prüft die Identität der ankommenden Soldaten anhand der Truppen-ausweise und vergleicht sie mit den Eintragungen im Zutrittkontrollbuch. Dann gibt er an alle Sicherheitsausweise, sogenannte Badges, aus. Ein zweiter Wachsoldat sichert das Geschehen mit einem G3. Er steht hinter einer Wand aus sandgefüllten Munitionskisten, die zur Sicherung des Gebäudes aufgestellt worden ist. Aus dieser sicheren Deckung hat er die Lage fest im Griff. Es ist kein gutes Gefühl zu wissen, dass eine Waffe in diesem Moment fertiggeladen und in grober Richtung auf uns gerichtet ist.



Nachdem wir alle unsere Badges bekommen haben, gehen wir erst mal in unsere Quartiere und begrüßen die Kameraden. Ralf, genannt Django, kommt gerade um die Ecke. Die P1 hat er noch umgeschnallt, weil er Wachhabender ist, und gleich an mich übergeben wird. Er trägt die Pistole immer tief wie John Wayne im Western. Daher kommt wohl auch sein Spitzname. Es gibt eine Menge zu erzählen. Neuigkeiten aus dem privaten Bereich, aber natürlich tauschen wir uns auch dienstlich in aller Schnelle aus.


Werner aus Kleve spricht liebevoll von seiner Fischkiste und meint damit das TTR (Target Tracking Radar = Zielverfolgungsradargerät). Er sagt, es könne zu technischen Problemen kommen, wenn es weiterhin so heiß ist. Die Temperaturen in den Trailern sind schon jetzt viel zu hoch. Die Aircondition läuft auf vollen Touren, aber das Thermometer zeigt nur eine Reaktion in die falsche Richtung. Eine konstante Betriebstemperatur ist für das Nike-Hercules-Waffensystem von äußerster Wichtigkeit. Bei zu großen Abweichungen von der Idealtemperatur spielt die veraltete Röhrentechnik verrückt.


Schon wird das Antreten zur Vergatterung der gesamten Crew befohlen. Unser BCO (Battery Control Officer = Feuerleitoffizier), Oberleutnant Oscar, ist gleichzeitig auch Offizier vom Wachdienst und nimmt die Vergatterung vor. Er ist ein erfahrener Berufssoldat und kennt sich mit dem Waffensystem hervorragend aus. Wir sind insgesamt 13 Mannschaften und 3 Unteroffiziere. Die beiden Fernmelder, der Stellungsfahrer und der Maintenance-Feldwebel treten nicht mit an. Jeder ist nach dieser Vergatterung quasi für die Wache einsetzbar. Als Wachhabender teile ich erst mal einen Soldaten für die Wache ein, damit die alte Crew abrücken kann. Dann überprüfe ich die Wache, die Munition und die Waffen. Danach wird das Wachbuch ausgefüllt sowie die Wach- und Bereitschaftspläne ausgehängt. Nun muss nur noch die Gerätewache, die sich noch im BCT (Battery Control Trailer) befindet, von einem unserer Soldaten abgelöst werden. Auch hierfür gibt es einen genauen Plan für die nächsten 72 Stunden. Abgelöst wird die Gerätewache alle 2 Stunden. Die Batterie muss immer für übergeordnete Dienststellen erreichbar sein und außerdem ist die Temperatur alle 30 Minuten zu überprüfen und ggf. über das Belüftungssystem zu regulieren.


Die Wach- und Bereitschaftspläne habe ich schon in der Kaserne geschrieben. Das erleichtert mir jetzt die Arbeit, und ich kann sie schon kurz nach unserer Ankunft am schwarzen Brett aushängen. Den Küchendienst weise ich mündlich an, den Waren- und Geldbestand unseres Minishops, es ist nur ein kleiner verschließbarer Schrank, zu überprüfen. Hauptsächlich werden Schokolade, Erdnüsse, Chips und sonstige Snacks verkauft. Vielleicht stellen wir diesen Verkauf bald ein, denn leider gibt es immer wieder Fehlbestände.


Nicht unerwähnt bleiben sollen unsere zwei Fernmelder in der Alpha-Vermittlung. Die beiden sieht man nur beim Schichtwechsel. Ansonsten sind sie immer in ihrer Alpha-Vermittlung zu finden. Und ganz besonders möchte ich unseren Wartungsfeldwebel, auf Neudeutsch „Maintenance-Mann“, Oberfeldwebel Hans Maier vorstellen. Maier fährt immer mit seinem Privatwagen, wie die meisten anderen Feldwebeldienstgrade und Offiziere, in den Stellungsbereich. Er ist schon lange bei der Truppe und hat viel Erfahrung bei der Fehlersuche und der Reparatur des Gerätes. Jeder dieser Maintenance-Feldwebel wurde mindestens 12 Monate in Fort Bliss an der RakSLwUSA von deutschen und amerikanischen Ausbildern ausgebildet, und ist in der Lage, nahezu alle Reparaturen an den Geräten des Feuerleitbereiches auszuführen. Sie kümmern sich aber ausschließlich nur um die Einsatzbereitschaft des Waffensystems und überlassen es voll und ganz den Unteroffizieren ohne Portepee, die Kampfbesatzung zu führen und alle damit verbundenen administrativen Aufgaben zu erledigen. Momentan hat Oberfeldwebel Maier alle Hände voll zu tun. Bis 16.00 Uhr hat er noch die Unterstützung des Chef-Maintenance und einiger anderer Feldwebeldienstgrade, die sich im Tagesdienst befinden. Alle sind jetzt mit dem Temperaturproblem beschäftigt. Der Chief hat befohlen, zusätzlich zur angeschlossenen Aircondition einen Wasserschlauch auf das Dach des BCT Trailers zu legen, um so mit kaltem Leitungswasser zu kühlen. 


Der Einsatzstatus darf nicht gefährdet werden. Zum Bataillon 24 gehören vier Batterien, die unterschiedliche Einsatzstatus haben. Delta, Echo, Foxtrott und Foxtrott Restrikted. In Foxtrott hat man eine 12stündige Vorlaufzeit, in Foxtrott Restrikted (FR) sogar eine Woche. Im FR-Status werden die großen Wartungsarbeiten durchgeführt, sogenannte Preventive Maintenance, abgekürzt PM. Wir sagen deshalb auch Pinseln und Malen dazu. Aktuell sind wir im Status Echo, d. h. wir müssen in der Lage sein, eine Einsatzbereitschaft in spätestens 6 Stunden herzustellen. Im Verteidigungsfall müssten wir in dieser Zeit eine Rakete abfeuern können. Der Status wechselt alle 24 Stunden. Morgen sind wir planmäßig in Delta, und das heißt, die Einsatzbereitschaft muss schon in 30 Minuten hergestellt sein. Das wiederum hat zur Folge, dass alle 6 Stunden Systemüberprüfungen durchgeführt werden müssen, um die tatsächliche Einsatzbereitschaft zu prüfen, bzw. zu gewährleisten. Natürlich werden diese Überprüfungen auch nachts durchgeführt.


Die erste Hiobsbotschaft erreicht uns am frühen Nachmittag und kommt vom BOC in Schönemoor bei Delmenhorst (Bataillion Operation Center), unserer übergeordneten Dienststelle, über Draht. Unsere Einheit muss den Deltastatus der 3.Batterie in Westerscheps übernehmen. Dort ist das Gerät defekt, und die 3. Batterie meldet sich erst einmal ganz aus dem Luftverteidigungseinsatz ab. Werner würde jetzt in seiner Klever Mundart sagen: „Bei denen ist die Fischkiste platt, und wir haben jetzt die Arschkarte gezogen“. Unser Batteriechef Major Macker formuliert es natürlich anders: „ Meine Herren, wir heißen nicht nur 1. Batterie, wir sind auch die Erste. Und die Erste übernimmt wie immer selbstverständlich“. So selten ist diese Statusänderung zu unseren Ungunsten aber gar nicht. Jederzeit muss man im Echo-Status damit rechnen, für eine andere Batterie zu übernehmen. Es hängt halt alles von der Technik ab, und die ist und bleibt unberechenbar.


Na ja, im Moment ist darüber noch keiner beunruhigt. Solange wir nicht ununterbrochen am Gerät herumbasteln müssen. Jeder hat es hier schon erlebt, dass Tage und Nächte durchgearbeitet werden musste, bis das Gerät wieder einsatzbereit war. Mittlerweile ist etwas Ruhe eingekehrt. Der Tagesdienst hat gegen 16.00 Uhr die Stellung verlassen, alle haben Abendbrot gegessen und sitzen im Aufenthaltsraum oder spielen eine Runde Tischtennis. Es ist jetzt 18.20 Uhr. Zehn Minuten später ertönt die Sirene. Oberleutnant Oscar will das Gerät und natürlich auch unsere Operator-Qualitäten prüfen. Deshalb hat er sich entschlossen, ein Übungs-ORE (Operational Readyness Evaluation) durchzuführen. Die Crew eilt im Laufschritt zum Interconnection-Building und nimmt drillmäßig die Plätze in den Trailern ein. Wir beginnen mit dem 20-Minuten-Drill. Ich bin in der Crew der TSU und kümmere mich im RCT um das Entfernungsmessradar (TRR). TSU heißt Tracking-Superviser, und das RCT ist der Radarmesstrailer, von dem aus die Radarantennen bedient werden. An der Konsole des Zielverfolgungsradars (TTR) ist jeweils ein Bediener für den Höhenwinkel (Elevation), für den Seitenwinkel (Azimuth) und für die Entfernung (Range) zuständig. Darüber hinaus gibt es hier im Trailer noch den MTR-Operator, der für das Flugkörperfolgeradargerät (MTR) verantwortlich ist. Und wenn es technische Probleme gibt, muss der Maintenance-Feldwebel ran.


Nach 16 Minuten melden wir dem BCO „TRACKING RADARS READY FOR ACTION“. Die Batterie muss in der Lage sein, innerhalb dieser 20 Minuten ein feindliches Flugziel zu bekämpfen. Wir feuern unsere Rakete nach 18 Minuten simuliert ab. Oscar zeigt sich zufrieden. Er sitzt im Wagen nebenan zusammen mit dem Lopar- und dem Computer-Operator an einer Konsole. Ja, und dann ist da noch der Switchboarder, der die Fernmeldeverbindungen hält.


Wir machen jetzt noch zwei Checks, bei denen das Zusammenspiel aller Radargeräte geprüft wird. Die Werte sind innerhalb der Toleranzen. Oscar reibt sich zufrieden seine großen Hände und lässt wegtreten. Wir gehen alle zurück ins Unterkunftsgebäude. Kurze Zeit später haben wir uns, bis auf die Wache, alle unseren blauen Sportanzug a`la BW angezogen und machen es uns bequem. Der Stellungsfahrer, ein Gefreiter aus Dortmund, geht von einem zum anderen und fragt, was jeder an Süßigkeiten, Getränken usw. haben möchte. Er kauft auch einen kleinen Vorrat für unseren Mini-Shop ein. Natürlich darf kein Alkohol bestellt werden. In den Stellungsbereichen herrscht absolutes Alkoholverbot. Dann fährt er zum nächsten Lebensmittelladen und holt für uns die bestellten Dinge. Im Sommer bei schönem Wetter grillen wir auch schon mal. Nur im Deltastatus hatte es sich nicht bewährt, denn da sind uns dann schon mal die Steaks verkohlt, weil die Sirene uns ans Waffensystem gerufen hatte.


Es ist Abend geworden. Um 20.00 Uhr hat der neue Wachsoldat seine Wache angetreten. Es ist der Obergefreite Schulz, der gerade eben noch am Gerät war, und jetzt seinen Wachdienst bis 24.00 Uhr versehen wird. Um 01.00 Uhr wird er dann wieder sein MTR überprüfen, denn wir sind im Deltastatus, und er ist als Operator einzelbesetzt. Die Arbeit am Waffensystem geht hier immer vor. Der Wachdienst wird durch einen anderen Kameraden übernommen, wenn ein Bediener am Gerät gebraucht wird. Da hat es bisher noch nie Schwierigkeiten gegeben. Das hat selbst der Gefreite Lohr verstanden. Es geht eben nicht anders, da nicht jede Position doppelbesetzt ist. Ich überprüfe die Munition im Wachlokal und die im Munitionsbunker. Alles in bester Ordnung. Der Hundeführer ist auch schon eingetroffen. Er sichert das Gelände in der Nacht mit seinem Hund. Der Hund, ein Deutscher Schäferhund, ist schon sehr alt, und sein Herrchen hat es auch nicht mehr all zulange bis zur Pensionierung. Beide sind sehr freundlich zu ihren olivgrünen Mitmenschen. Die zwei sorgen hier für zusätzliche Sicherheit in der Nacht und haben einen sehr eintönigen Auftrag zu erfüllen. Als ich wieder am Wachlokal vorbei komme, unterhält sich der Wachsoldat gerade mit unserem Hundeführer über das WM-Endspiel. Ich steige in die Unterhaltung nicht ein, denn meine beiden Unteroffiziers-Kameraden warten schon auf mich. Wir wollen Skat spielen. Wir drei teilen uns ein kleines Zimmer. Möbliert ist der Raum mit Etagenbetten, vier Blechspinden, einem Tisch und vier Stühlen. Das ist alles was diesen Raum bewohnbar macht.


Die Mannschaften sind noch viel schlechter dran. Im großen Schlafraum sind sie zusammen mit 10 Kameraden untergebracht. Hier gibt es sogar ein 3-stöckiges Bett! Da muss man besonders gut aufpassen, weil man direkt unter der Zimmerdecke liegt und sich den Kopf stoßen kann, und ein Herausfallen hätte mit Sicherheit schlimme Folgen. Alle Schlafräume sind eigentlich nur Ruheräume, so wurde es auf dem Papier von den Verantwortlichen der Bundeswehr, Vertretern der Finanzbehörde und dem Verteidigungsministerium, sowie dem Staatshochbauamt ausgehandelt und konzipiert. Die Gebäude sollten wohl aus finanziellen Gründen nicht so groß werden. Angeblich sollte gar nicht auf Schicht geschlafen, sondern nur geruht werden, um den Einsatzstatus nicht zu gefährden. Ein Mensch, der nur ruhen darf, hat einen deutlich geringeren Anspruch auf die Mindestgröße eines Raumes. Eine solche Denkweise und Begründung halte ich für perfide, wenn ich daran denke, was wir als Verteidiger unseres Heimatlandes hier jeden Tag leisten müssen!


Wir spielen Grand, Ramsch, Farbe, ohne Reizen, 9 Spiele. Wer verliert, zahlt dem Gewinner eine Mark. So geht es die halbe Nacht. Alle wissen, um 01.00 Uhr sind die Six-Hour-Checks angesetzt. Da lohnt es sich nicht, vorher zu schlafen. Und überhaupt, es ist heute eh’ zu warm im Gebäude. Theo wird auf einmal ganz nachdenklich und sagt: „Wisst ihr eigentlich, dass wir die ersten sind die Draufgehen, wenn die Warschauer Pakt Staaten einmal angreifen sollten. Die kennen unsere genauen Stellungs-Koordinaten und haben die vielleicht sogar schon in ihren Raketen-Systemen eingegeben. Das wurde doch schon alles ausspioniert. In jedem Intertrans-LKW der DDR, der hier durch die Gegend fährt, sitzt mindestens ein Spion“. „Ja, stimmt, da gebe ich dir recht. Die Hawkies sind ja wenigstens noch mobil und können die Stellung ständig wechseln. Aber wir sitzen hier wie auf dem Präsentierteller“. „Es soll Raketen geben, die „reiten“ quasi auf unserem Radarstahl ins Ziel, sprich in unsere Stellung“. „Theo, hör auf. Du bist dran mit Geben. Und das Mischen nicht vergessen“.


Nach den nächsten 9 Spielen habe ich genug verloren und gehe in die Küche. Eigentlich ist es ja nur eine Küchenzeile, mehr nicht. Im Kühlschrank befindet sich noch ein Stück Käse vom Abendbrot. Das verleibe ich mir jetzt ein. Der Geno-Operator hatte wohl den gleichen Gedanken. Auch er sucht im Kühlschrank nach Essbarem. Dabei murmelt er immer wieder: „Ohne Mampf kein Kampf“. Er stinkt tierisch nach Diesel. Wahrscheinlich hat er sich beim Betanken seiner Generatoren davon mal wieder reichlich auf Hose und Stiefel gekippt. Wenn die Generatoren laufen, hat er immer viel zu tun, denn dann muss er die durstigen Motoren mit Kraftstoff versorgen.



01. Juli 1978


Den letzten Bissen meines Käsebrotes kauend schlendere ich nun ganz gemütlich in Richtung Interconnection-Building am Wachlokal, Außenlager und Feldhaus vorbei und sehe, wie Hans dort gerade das Licht ausmacht. Das Feldhaus ist eine grau angemalte Holzbaracke. Hier haben sich die Feldwebeldienstgrade einen gemütlichen Aufenthaltsraum nebst Schlafraum eingerichtet. Außerdem gibt es noch einen größeren Raum mit einer Tischtennisplatte und einen kleineren für die Hundeführer.


Der Wasserschlauch, mit dem heute Nachmittag noch der Trailer gekühlt wurde, ist nun fein säuberlich aufgerollt und plätschert nicht mehr. Die Aircondition wurde ebenfalls abgestellt. Ganz still ist es aber trotzdem nie in der Stellung. Es summt ständig um uns herum. Das sind in erster Linie die Lüfter, die die elektronischen Bauteile in den Trailern hinter den lindgrünen Metalltüren kühlen. Aber auch die Gebläse, die den ballonartigen Wetterschutz, Radom genannt, der Tracking-Antennen aufblasen. Irgendwann hört man es nicht mehr. Dann gehört dieses Summen einfach dazu. Ich habe es einmal erlebt, da brach die Stromversorgung völlig zusammen. Wir liefen auf „Tactical Power“, d.h. der Strom wurde mit den Generatoren erzeugt und kam nicht wie jetzt aus dem Stromnetz. Und auf einmal war alles mucksmäuschenstill, weil der Geno-Operator vergessen hatte, rechtzeitig Diesel nachzutanken. An diesem Ort ein wirklich außergewöhnliches Ereignis, wenn man die Stille hören kann.


Als ich das Interconnection-Building über eine 6-stufige Metalltreppe betrete, höre ich noch, wie die Gerätewache gerade mit dem Bataillion Operation Center (BOC) den Line-Check durchführt. ALPHA, BRAVO, DELTA, CHARLIE for ZERO EIGHT, over. ALPHA, REQUEST ADL INTEGRATION CHECK! ALPHA, ROGER..... ALPHA......usw. und sofort. Alle zwei Stunden überprüft unsere vorgesetzte Dienststelle die Leitungen zu den vier Batterien Alpha, Bravo, Charlie und Delta. Das Interconnection-Building ist ein einfaches, gemauertes Gebäude. In der Mitte befindet sich der Batteriegefechtsstand. Der Gefechtsstand wird nur bei großen Übungen wie dem jährlichen TacEval mit militärischem Leben gefüllt. In einer Ecke steht das MCL 200, ein Richtfunkgerät. Die drei Trailer, der RCT, der BCT und der M&S-Wagen haben rückwärts am Interconnection-Building angedockt. Gleich links neben der Eingangstür hat der Chief Maintenance sein kleines Büro. Das haben wir vor 1 1/2 Jahren in Eigenleistung selber angebaut. Ein Stabsunteroffizier war gelernter Maurer und die Wände ruckzuck hochgezogen. Ich habe eine Woche lang nur Abbruchsteine abgeklopft, die dann wieder neu vermauert wurden. Da war ich noch ganz neu hier in der Stellung und eigentlich sollte ich während dieser Woche für meine AAP 8 Prüfung als Elevation Operator ausgebildet werden.


In wenigen Minuten sind alle da, und es kann losgehen. Jeder weiß genau, was er zu tun hat. Es wird keine Zeit verschwendet. Wir machen jetzt die Six-Hour-Checks. Für alle Checks haben wir unsere Drillkartensätze. Fast alle Gerätebediener benutzen sie aber nicht, weil sie die meisten Routinechecks inhaltlich auswendig beherrschen. Beim TRR-Range-Check stellt der Azimuth-Operator fest, dass die Dials beim Ablesen oszillieren. Nach Meldung an den BCO wird der Mittelwert eingestellt. Noch läuft alles gut und nach Plan. Beim Simultaneous-Tracking-Check wird sich zeigen, ob alle gut gearbeitet haben, dass Waffensystem keine defekten Bauteile hat und wir uneingeschränkt einsatzbereit sind.


Die Uhr im Chiefbüro zeigt 01.45 Uhr an. Die dritte Kanne Kaffee dampft vor sich hin. Der Computer-Operator hat irgendein Problem. Hans hat seinen Schraubendreher gezückt und schraubt schon an einigen Bauteilen herum. Er hat den M&S-Operator ins Außenlager geschickt, um ein Ersatzteil zu holen. Irgend so ein Bauteil, auf dem dieses Radioaktiv-Symbol drauf ist. Ich glaube, es sind nur die Röhren, auf die sich der Aufkleber bezieht. Wenn so eine Röhre auf den Boden fällt und dabei zerspringt, darf man die Scherben auf keinen Fall mit den bloßen Händen anfassen. Davor hat man uns in der Ausbildung ausdrücklich gewarnt.


Ich habe jetzt meine vierte Tasse Kaffee getrunken und die fünfte Zigarette geraucht, und mein Magen beginnt zu rebellieren. Seit kurzem drehe ich meine Zigaretten selber. Der M+S Operator, Gefreiter Borgmann, wohnt in der Nähe der holländischen Grenze und kauft den Tabak günstig im Nachbarland. Er bringt mir zu jeder Schicht 2 Päckchen Samson Halfzware Shag mit. Soll der beste Tabak zum Drehen sein.

Aber warum mache ich das nur? Rauchen und schwarzen Kaffee trinken ist so ungesund. Jetzt habe ich aber keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Am Computer sind alle Fehler behoben und Oberleutnant Oscar bläst ins Horn und will einen Dynamic-Check-Course 2 und danach einen sauberen Simultaneous-Tracking-Check sehen.


Dafür brauchen wir ein richtiges Flugzeug in der Luft und Gott sei Dank finden wir auch schnell ein passendes Target (Flugziel). Das ist nachts oft sehr schwierig, denn da fliegt in unserem Luftraum nicht viel herum. Wir haben Glück, die Werte sind alle im „grünen Bereich“. Für heute Nacht ist erst mal Feierabend. Das Gerät wird heruntergefahren, die Magnetrone ausgeschaltet. Magnetrone sind Hochfrequenz-Senderöhren laienhaft ausgedrückt, die sich in den Antennen befinden. Nur die Gerätewache bleibt zurück, alle anderen gehen ins Bett. Es ist 02.20Uhr und ich liege jetzt in meinem Bett. Ich habe kalte Füße, und dann kann ich einfach nicht einschlafen. Wie war das noch mal mit dem Schäfchen zählen. Ach Quatsch, das bringt doch nichts. Das ist garantiert der Kaffee. Klar, der ist es. Und immer schwarz, weil die Milch hier grundsätzlich sauer ist! Die Füße sind jetzt warm, und trotzdem klappt es nicht mit dem Einschlafen. Ich versuche an etwas Schönes zu denken. Vor einem dreiviertel Jahr war ich im Rahmen meiner Ausbildung in Fort Bliss. Nach dem Unteroffizierslehrgang in Oldenburg-Donnerschwee kam in den Staaten die fachliche Ausbildung an allen Geräten des Radarmesswagens. Das war zusammen mit dem Jahresschießen auf der griechischen Insel Kreta die absolute Krönung meiner bisherigen Soldatenlaufbahn. Vom militärischen Bereich des Kölner Flughafens ging es mit einer Boeing 707 über Washington DC nach El Paso. Nach zwei Wochen Tagesdienst wurde der Lehrgang in zwei Gruppen aufgeteilt und dann im zweischichtigen Rhythmus von 4.00 Uhr bis 12.00 Uhr oder von 12.00 Uhr bis 20.00 Uhr ausgebildet. Für jedes Großgerät des RCT´s bzw. BCT`s musste eine Prüfung abgelegt werden. Nach 13 Wochen, kurz vor Weihnachten, waren wir wieder mit bestandenem Lehrgang zurück in der Heimat.


Gegen 5.30 Uhr werde ich schweißgebadet durch einen Albtraum wieder einmal wach. Die letzten Bilder des Traumes sehe ich noch vor mir. Es ist eine Klapperschlange, die sich kriechend verzieht, nachdem sie mich gebissen hat. Aber es gab damals keine Schlange die mich biss oder davon schlängelte. Ja, ich bin tatsächlich in die Wüste gegangen und habe nach einem Ast oder ähnliches für den Radwechsel am Auto gesucht. Aber Gott sei Dank hat mich keine Schlange oder Skorpion gebissen bzw. gestochen. Immer wieder habe ich diesen Albtraum. Jetzt kann ich auch nicht mehr einschlafen, außerdem ist gleich planmäßiges Wecken. Theo ist über mir im Bett auch schon wach. Udo schnarcht noch und träumt bestimmt von seiner Freundin Sabine. Der große Blonde mit den hellblauen Augen hat schon konkrete Pläne für die Zeit nach der Bundeswehr. Er will sich bei der Berufsfeuerwehr in Iserlohn bewerben.



Theo klettert von oben aus dem Doppelstockbett. „Na Junge, haste wieder deinen Traum gehabt“. „Ja, woher weißt du das“? „Weil du im Schlaf schreist und mit dem Fuß gegen den Bettpfosten getreten hast“. , Hahahahaha“. „Sorry, tut mir leid. Dann habe ich dich wohl geweckt“. Theo sucht sein Waschzeug zusammen und geht in den Waschraum. Zeit aufzustehen und das gleiche zu tun. Es ist 6.00 Uhr morgens, im Mooriemer Stellungsbereich, und natürlich auch anderswo erwacht ein neuer Tag. Der Wachsoldat dreht dynamisch an der Kurbel der Handsirene. Eine sehr effektive Methode des morgendlichen Weckens. Er freut sich, dass seine Wachzeit bald endet und er nun nicht mehr so allein ist. Jetzt kommt wieder Leben ins Gebäude. Ich gehe in den Waschraum und halte meinen Kopf unter den Kaltwasserhahn. Das macht wach. Schnell sind die Zähne geputzt, und dann rein in die Klamotten. Geduscht wird abends. Dann hat man viel mehr Zeit dazu. Jetzt ist der Andrang im Waschraum auch besonders groß. Alle drängeln vor dem Waschbecken und versuchen einen guten Stehplatz vor den Spiegeln zu ergattern. Udo hat ganz rote Augen, scheint auch nicht so gut geschlafen zu haben.


Wir ziehen uns wieder unseren Sportanzug an. Den tragen wir am Wochenende immer, es sei denn, wir beschäftigen uns mit Stellungsbau. Dann ziehen wir unseren Arbeitsanzug, auch Grünzeug genannt, an. Der Stellungsbau wird hier meiner persönlichen Meinung nach gegen die Langeweile eingesetzt, damit alle beschäftigt sind und keiner auf dumme Gedanken kommt. In der Regel sieht es so aus. Es wird Erde mit einem Lastwagen angefahren, die wir mit Karren und Schaufeln in Mulden und Absenkungen verteilen. Ein tieferer Sinn ist in dieser Arbeit aber nicht zu erkennen. Deshalb vermute ich, dass der Batteriechef die körperliche Arbeit als ein therapeutisches Mittel einsetzt. Schöner sieht unsere Stellung jedenfalls nach dieser schweißtreibenden Arbeit nicht aus. Beim letzten Einsatz mit Karre und Schaufel meinte Bonzo, er kennt ein Lied von Hannes Wader mit dem Titel, „Wir sind die Moorsoldaten“. Das Lied würde perfekt zu uns passen. Im Text kommen Soldaten, Moor, Spaten und Stacheldraht vor. Singen sei aber nicht seine Stärke, und deshalb blieben wir Gott sei Dank von einer (un)musikalischen Darbietung verschont.


Im Frühjahr dieses Jahres haben wir allerdings eine durchaus sinnvolle Arbeit in Sachen Stellungbau gemacht. Unser Chief ist auf die Idee gekommen, wir könnten ja den Sand unter den Betonplattformen, auf denen die Antennenwagen auf dem Radar-Wall stehen, entfernen und darunter Kampfstände bzw. Bunker bauen. Die Betonplattformen ruhen auf gut gegründeten massiven Betonpfeilern, die tief bis auf tragende Schichten gehen. Man sagt, es wurde über 12 Meter tief gegründet. Den Sand hatten wir ca. 2 Meter unter den Plattformen mit Schaufeln entfernt, so dass man jetzt aufrecht im Bunker stehen kann. Die Seitenwände der Bunker wurden mit Beton ausgegossen, der Boden mit Klinkersteinen gepflastert. Auf diese Weise entstanden drei Bunker, davon zwei mit Kampfständen für die Objektverteidigung.


Bei den Mannschaftsdienstgraden kam dieses Projekt ungewöhnlich gut an, alle machten engagiert mit und es klappte auf Anhieb. Alle Beteiligten waren stolz und zufrieden mal etwas Handfestes geschaffen zu haben, als immer nur Sicherheit zu produzieren, die weder sichtbar noch messbar ist. Damit werden wir wohl beim nächsten TacEval mächtig Eindruck beim Checkteam machen. Und es wird vielleicht sogar dafür Sonderpunkte geben.


Mittlerweile ist es 6.50 Uhr geworden und die Fahrbereitschaft hat uns mit einem MAN-Lastwagen das Frühstück rausgebracht. Es ist ruckzuck abgeladen und wird in die Küche gebracht. Für jeden sind zwei Brötchen vorgesehen, Marmelade, Wurst, Käse, Margarine. Manchmal gibt es auch Rührei. Leider habe ich morgens nie Hunger. Ich zwinge mich dennoch, ein halbes Brötchen herunter zu würgen. Der Kaffee schmeckt heute nicht so toll. Die Jungs geben mal wieder ihre Kommentare über das angebliche Hängolin im Kaffee ab. Totaler Quatsch, aber sie haben Spaß an diesen derben Sprüchen, vor allem wenn sie damit junge Rekruten verunsichern können.


Nach kurzem Revierreinigen geht es wieder an die Geräte. Dieses Mal müssen die Daily-Checks gemacht werden. Das kann schon mal den ganzen Vormittag dauern. Als erstes gehen wir über eine Metalltreppe zu den Antennen auf den Wall. Die Parabolantennen sind auf Anhängern montiert, die nicht auf den Rädern sondern auf drei massiven und justierbaren „Metallfüßen“ auf den Betonplatten stehen, unter denen sich seit kurzem, wie schon erwähnt, unsere „Bunker“ befinden. Den Parabolspiegel sieht man aber erst, wenn man den Wetterschutz aufmacht. Das machen wir heute nicht. Aber bei den Weekly-Checks prüfen wir zum Beispiel an der offenen Antenne den Transmitterstrom, genauer gesagt, ob die Sendeleistung ausreichend und innerhalb der Toleranzen liegt.


Jetzt prüfen wir, ob die Antennen optimal horizontal ausgerichtet sind. Das geschieht mit einer eingebauten Wasserwaage und nennt sich Leveling-Check. Alle Checks werden in einer bestimmten Reihenfolge durchgeführt. Alle Abweichungen der Toleranzwerte werden sofort dem BCO gemeldet. Er entscheidet über die einzuleitenden Maßnahmen. Nach dem Antennen-Leveling gehen wir wieder runter in unseren Trailer. Es folgen die üblichen Daily-Checks Range-Zero, Receiver-Sens, Angle-Sens usw.. Hans hat jetzt wieder alle Hände voll zu tun. Fehlersuche, Feinjustierungen, mal ein Bauteil wechseln, das ist Alltag für ihn. Der Samstagvormittag vergeht schnell. Ich habe sogar noch die Zeit, eine Runde Tischtennis mit Udo zu spielen. Udo und ich kommen sehr gut miteinander aus. Das ist hier nicht ganz unwichtig. Wir leben schließlich alle auf engstem Raum miteinander. Um 12.00 Uhr wird er die Wache als neuer Wachhabender von mir übernehmen.


Wir bleiben natürlich weiter im Status Delta. Nach dem Essen, es gab Kartoffelsalat mit Kotelett, setzen wir uns vor dem Wachlokal auf den Balken, der den PKW-Parkplatz umgrenzt, in die Sonne und relaxen. Zum Nachtisch gab es warmen Eiter mit Blut, Zivilisten sagen Vanillepudding mit Himbeersaft dazu. Theo sagt immer, der Hunger treibt´s rein, der Ekel schiebt´s runter. Aber wie schon gesagt, das Essen ist gut in dieser Einheit. Sind einfach alles nur flachsige Soldatensprüche.


Ich habe mein Radio mit rausgenommen. Wieder einmal trifft NDR2 nicht meinen Musikgeschmack, aber es ist der stärkste Sender hier in unserer Gegend. Radio Luxemburg können wir nur mit vielen Störungen, Rauschen und Jaulen hören. Ein Bauer fährt mit seinem Trecker an der Stellung vorbei. Das ist in dieser Gegend fast schon ein Ereignis. 13.00 Uhr, wieder machen wir unsere Six-Hour-Checks. Größere Probleme treten nicht auf. Der Nachmittag vergeht ohne nennenswerte Abwechselung. Nach dem Abendbrot sitzen wir zusammen im Fernsehraum und schauen im ZDF die Sendung „Disco“ mit Ilja Richter. Seine Sketsche nerven, aber die Musik ist Spitze. Bei jeder Drehung der Loparantenne macht es im Lautsprecher des Fernsehers „Fiep“. Immer im gleichen Rhythmus. Wahrscheinlich hat die Gerätewache das Magnetron des Lopars „gefeuert“ und beobachtet den Luftraum. Gefreiter Scholz betritt den Raum und setzt sich zu mir. „Na Uffz, wie sieht’s aus?“ Genüsslich beißt er vom mitgebrachten Sandwich ab. „Also, dieses Fiep, das sind doch die Radarstrahlen, oder?“, fragt er während einer Kaupause. „Ja“, antworte ich, „das ist die Radarkeule des Rundumerfassungsradargerätes“. „Ob die Radar-Hochfrequenzenergie wohl unseren Körpern Schaden zufügen kann?“, will er dann von mir wissen. Ich weiß es nicht. In der Ausbildung wurde darüber nicht gesprochen. Man hat uns damals nur gewarnt, immer auf die roten Pfeile an den Tracking-Antennen zu achten und nicht im Bereich davor herumzulaufen. Bei den Tracking-Antennen ist der Radarstrahl gebündelt und somit konzentriert. Man nennt den Strahl auch „Pencilbeam“. Angeblich sollen Vögel, die in diesen Strahl geflogen sind, tot vom Himmel gefallen sein. Wer weiß, ob das tatsächlich stimmt. ch jedenfalls verstehe definitiv von Radartechnik zu wenig, um das beurteilen zu können.


Meine Gedanken werden durch das Sirenensignal jäh unterbrochen. Es ist jetzt 19.00 Uhr und unser Oberleutnant erinnert uns an unsere Pflichten. Wir machen wieder ein Übungs-ORE und hängen hinten noch ein paar Checks dran. Diesmal haben wir ein technisches Problem. Die Werte sind weit außerhalb der Toleranzen. Wir müssen zusätzliche Checks machen und Justierungen vornehmen. Noch einmal den Angle-Sens-Check von vorn. Oberfeld Maier sagt an, der Elevation-Operator dreht die Werte an den Handrädern ein. PLUS 5, MINUS 5, PLUS 5, MINUS 5. Maier schaut auf das Anzeigeinstrument und zupft gelegentlich an den Kabeln in der Radar-Set-Group des TTR’s. Nachdenklich sagt er dann: „Wir machen noch mal Phasing“. PLUS 5, MINUS 5, PLUS 5, MINUS 5. Weitere Checks folgen, bevor es nach draußen an die Antennen geht. Das Zauberwort heißt jetzt Collimation-Check. Nach einer guten Stunde und einigen neuen Bauteilen wird wieder ein Flugziel erfasst. Die Werte sind nun innerhalb der Toleranzen. Wir fahren das Gerät runter und gehen zurück in den Aufenthaltsraum. Ilja hat schon lange das Feld geräumt und es Rudi Carell überlassen. Ein Blick auf die Uhr bestätigt, es ist 22.05 Uhr, und es läuft die Show „Am laufenden Band“. Ich bin müde und gehe in den Uffz-Raum. Meine Stubenkameraden spielen Skat. Es herrscht eine gute, ausgelassene Stimmung. Udo verliert. Er fragt, ob ich übernehmen möchte, aber ich lege mich lieber auf´s Bett und schaue die kahlen weiß gemalten Wände an.




01. Juli 1978


Ich werde von Theo an den Schultern wachgerüttelt. Es ist kurz vor 01.00Uhr. Vollkommen angezogen bin ich auf dem Bett eingedöst. Auf dem Weg zum Interconnection-Building mache ich an der Wache halt. Mir ist kalt. Nebel kommt auf. Wenn der Nebel ganz dicht ist, müssen die Wachsoldaten in der LA von ihren Türmen runter und Doppelstreife laufen. Der Nebel kommt hier im Moor sehr schnell. Unser Hundeführer, heute ist es ein anderer mit einem sehr scharfen Hund, dreht seine Runden und lässt gerade die Kontrollzeit ins Wachbuch eintragen. Den Hund im weiten Abstand umgehend gehe ich weiter.

Zwei Minuten später bin ich im RCT angekommen und sage zu Udo, er soll den Interlock-Schalter halten. Der Interlock-Schalter ist ein Personensicherheitsschalter, der gewährleistet, dass man nicht allein die Schränke öffnen kann. Hinter den lindgrünen Türen lauern unsichtbar hohe elektrische Spannungen, an denen man sich unter Umständen verletzen könnte. So ist immer mindestens ein Kamerad anwesend, der Erste Hilfe leisten kann. Wir dürfen in der Stellung wegen unserer Arbeit an spannungstragenden Bauteilen auch Ringe, Halsketten sowie unsere Erkennungsmarke nicht tragen. Ich öffne die Türen des TRR-Schrankes und schaue auf das Innenleben. Die Bauteile sind mit leuchtenden Röhren gespickt. Diese Röhrentechnologie ist schon total veraltert. Die erste Hercules Rakete wurde am 13. Januar 1955 von einer Nikebatterie abgefeuert. Das war immerhin vor 23 ½ Jahren und somit ist das System älter als ich.


Nachts herrscht eine ganz andere Atmosphäre im Trailer. Wir arbeiten schweigend und beeilen uns, schnell fertig zu werden. Wieder ein Problem, diesmal an der MTR-Antenne. Es muss ein sogenannter Azimuth-Pott gewechselt werden. Das ist ein analoger Wertegeber für den Seitenwinkel und befindet sich unter der Antenne. Es ist eine Arbeit für zwei. Hans hat schon alles organisiert. Das Teil ist im Außenlager vorrätig, und schon sind wir feste am Schrauben. Zu zweit knien wir unter dem Antennenwagen und montieren die runde Bodenplatte ab. Dahinter befindet sich das defekte Bauteil. Nach einer halben Stunde ist die letzte Schraube wieder festgedreht, und wir sind froh, dass wir wieder aufrecht stehen können. Wie die nächsten Checks zeigen, ist der Fehler mit dem Austausch des Bauteils behoben. Um 2.23 Uhr erwischen wir gerade noch das letzte Flugzeug für unseren Simultaneous-Tracking-Check, wahrscheinlich hat es gerade vom Bremer Flughafen abgehoben, und können unsere Six-Hour-Checks zu Ende bringen.


Der Computer-Operator, Hauptgefreiter Dieter Riemer, ein Bremer, der sich selber gerne Mannschaftsgeneral nennt und einen traumhaften Bremer-Fischereihafen-Slang spricht, lässt noch seinen Standardspruch ab. Alle nennen ihn Bonzo und er ist er echtes Original. Fast 2 Meter groß, Vollbart und ein richtiger Kanten. Bringt bestimmt 100 KG auf die Waage. Er sagt bei jeder passenden und auch unpassenden Gelegenheit, „ALLES NUR FILM“. Damit meint er, wir kämpfen hier nur gegen imaginäre Gegner, also nichts ist echt. Okay, da hat er wohl recht, aber immerhin schießen wir jährlich einmal auf Kreta auch eine richtige Rakete ab. Und unsere Prüfungsergebnisse beweisen schwarz auf weiß, dass wir es können. Bonzo ist wie ich auch SAZ 4, aber er hat den militärischen Teil des Unteroffizierslehrgangs nicht bestanden. Ich fragte ihn kürzlich, wie das gekommen sei. Ich weiß nämlich, dass er ein richtig intelligentes Kerlchen ist, Abitur hat, und nach der Verpflichtungszeit Studieren wird. Er sagte schlicht und einfach, er habe keine Lust, sich mit den Mannschaftsdienstgraden anzulegen. Die Offiziere würden ihm schon reichen. Unteroffiziere und Hauptgefreite erhalten fast den gleichen Sold. Da besteht kein großer Unterschied und deshalb fehlte für ihn auch der finanzielle Anreiz. Deshalb habe er sich absichtlich selber durchgefallen lassen. Das glaube ich ihm aufs Wort, denn den Fachlehrgang in USA hat er erfolgreich absolviert und mit Bestnoten bestanden.


Bis auf die Gerätewache und die Wache im Wachlokal gehen wir alle zurück in unsere Betten. Alle fallen sofort in einen komaähnlichen Tiefschlaf.

Noch bevor die Tür zum Uffz-Schlafraum aufgerissen wird, höre ich den Wachsoldaten rufen. „B-Crew, Aufstehen, Alaaaaaaarm!“ Und schon steht er im Zimmer und brüllt seinen Spruch nochmal. Im Nu sind wir auf den Beinen und ziehen den Jogginganzug über den Schlafanzug. Ein Blick auf die Armbanduhr sagt mir, es ist genau 4.26 Uhr. Was ist los? Die Sirene jault. Wir rennen am Torposten vorbei. „Das Checkteam ist da“, ruft er uns nach. Vor dem Interconnection-Building steht ein olivfarbener VW Bulli. Als wir das Gebäude betreten, treffen wir auf vier unbekannte Soldaten im kleinen Dienstanzug. Alle haben ein Klemmbrett bzw. eine Kladde in der Hand und beobachten aufmerksam unsere Reaktionen. Ein Hauptmann, vermutlich der Leiter des Checkteams, erteilt seinen Leuten Weisungen. Er ist nicht besonders groß, strahlt aber durch sein selbstsicheres Auftreten Autorität aus. Wir werden immer wieder ohne Vorankündigung von diesen Teams besucht. Eigentlich heißen diese Teams „Schießtechnische Prüf- und Auswertegruppen“ (SPAG), und sind beim Bataillion sowie Regiment angesiedelt. Unser Oberleutnant war einer der ersten an der Konsole. Sein Gesicht ist extrem zerknittert und aschfahl. „Bing, bing“, die Statusanzeige zeigt Blue Status. 20 Minuten Drill. Zwei unserer Luftwaffenkameraden in Blau kommen mit uns ins RCT. Die Handgriffe, die jetzt folgen, wurden von uns 1000mal geübt. Ein Checker macht jetzt eine Notiz auf seinem Klemmbrett. Vor einem Jahr hätte mich das noch sehr nervös gemacht. Heute belastet mich das nicht mehr so. Ich weiß, es gehört zur Strategie unserer Überprüfer, uns auch ein wenig zu verunsichern. So will man uns unter Stress setzen, um festzustellen, ob wir auch im Ernstfall funktionieren würden. Ich habe mal nach einem ORE auf so ein Blatt geschaut. Da waren lauter Strichmännchen drauf. Unser Zugführer Hauptmann Fiesel pflegt immer zu sagen: „Keine Bange, meine Herren, die Kameraden vom Checkteam sehen unter der Dusche genau so aus wie wir. Bleiben Sie ruhig und lassen sich nicht beirren!“


Nach 17 Minuten erfolgt der Befehl „TURN LIGHTS DOWN“. Das Licht im Trailer wird vom Elevation-Operator über einen Dimmer abgedunkelt. Nun sind nur noch die UV-Lampen an der Trailerdecke an. Ich melde dem BCO: „TRACKING RADARS READY FOR ACTION.”


Ein Buzzer ertönt. Der BCO hat ein Flugziel ausgewählt und den Lopar-Operator angewiesen, auf dieses Ziel zu gehen und es an die Tracking-Radars zu übergeben. Der Azimuth-Operator hält den Aquireschalter, und automatisch richten sich die Antennen auf das zugewiesene Ziel. Der Azimuth-Operator befiehlt „SEARCH“. Der Elevation-Operator dreht sein Handrad zweieinhalbmal nach rechts, dann wieder zurück, bis das Flugziel im Höhenwinkel erfasst wird. Jetzt das Signal noch zentrieren und alle Schalter auf AUTO. Kurz auf SHORT PULSE schalten, um festzustellen, wie viele Flugzeuge es sind. Dann wieder zurück auf LONG PULSE. Meldung an den BCO: „TRACK SIZE ONE.“

Jetzt heißt es das Flugziel sauber bis zur simulierten Vernichtung zu führen. Über die Kopfhörer hören wir Oscars Stimme. „FIVE, FORE, THREE, TWO, ONE, FIRE!” Die Rakete ist nun simuliert auf dem Weg zum Flugziel. Sie wird vom MTR, dem Flugkörperfolgeradargerät, ins Ziel geführt. Der Computer errechnet die Steuerbefehle. Wir hören die Stimme unseres Computer-Operators: „TEN SECONDS TO BURST.“ „BURST.“ Das Flugziel wurde simuliert zerstört. Ich melde: „TARGET SIMULATED DAMMAGED.“

Neue Zielzuweisung. Und so geht es eine ganze Weile weiter. Nun wollen unsere Überprüfer noch einige Checks sehen. Wir nennen sie die Post-Firing-Checks. Alles läuft zufriedenstellend ab. Nach 2 Stunden steht das Ergebnis der Überprüfung durch das Checkteam des Bataillons fest. Die Batterie ist OPERATIONAL, die Crew wird mit SATISFACTORY bewertet. Der Hauptmann im Blauzeug erklärt kurz, welche Fehler von uns gemacht wurden. Ein paar Fehler werden fast immer von den Bedienern gemacht, da es 1000 Möglichkeiten gibt, einen Fehler zu begehen. Alles muss 100%ig gemäß schriftlicher Vorgaben gemacht werden. Jeder Schalterstellung, jede Ablesung eines Messgerätes, jede Meldung ist wichtig und wird von den Überprüfern registriert und bewertet. Für viele von uns ist das Stress pur. 


Dann kann die Crew wegtreten. Wir kommen genau richtig, das Frühstück wird gerade vom LKW abgeladen. So bekommen wir warmes Rührei von unserem Küchendienst auf den Teller gelöffelt. Nach dem Frühstück hält unser Oberleutnant noch eine kurze Ansprache. Zuerst bekommt der Torposten einen Einlauf verpasst. Er hätte erst einmal die gesamte Crew wecken und erst dann das Checkteam hereinlassen sollen. Der Gefreite lässt das Gewitter über sich ergehen. Nur nicht widersprechen, denkt er jetzt bestimmt. Dann wird alles nur noch schlimmer. Nach der Peitsche folgt das Zuckerbrot. Oscar lobt den Leistungsstand der Crew. Sichtlich zufrieden begibt er sich in seinen BCO-Raum gegenüber dem Wachlokal. Wir lassen es ruhig angehen an diesem Sonntagmorgen. Um 12.00 Uhr ist wieder Wachwechsel, alles Routine. Wir ändern den Einsatzstatus und sind endlich wieder im Status Echo. Nun brauchen wir gottlob nicht mehr die Six-Hour-Checks durchführen.


Kurz nach dem Mittagessen spielen wir RISIKO, ein Strategiespiel mit Auftragskarten und Würfeln. Hier geht es um nichts als Spaß zu haben. Ich bin schnell raus aus dem Spiel, weil ich gleichzeitig von 3 Mitspielern angegriffen wurde. Okay, dann mache ich einfach mal einen kleinen Spaziergang und besuche Hans in seinem Feldhaus. Theo kommt mit, und schon werden die Karten gemischt. Grand, Ramsch, Farbe, auf ein Neues. Neues Spiel, neues Glück. Nach dem letzten Spiel geht`s in den Speiseraum. Abendessen und dann ein bisschen Fernsehen. Im 1. Programm DURCH DAS WILDE KURDISTAN. Im Zweiten MONDBASIS ALPHA 1. Ich kann mich nicht entscheiden und gehe lieber noch mal raus vor das Unterkunftsgebäude. In der Wache sitzt der Gefreite Lohr. Ein ganz sonderbarer Zeitgenosse. Kerzengerade sitzt er am Tisch und starrt regungslos in die Landschaft. Ich habe  immer ein ungutes Gefühl, wenn ich ihn in der Wache mit der Pistole im Holster sehe. Er hat sich für 4 Jahre als Soldat auf Zeit (SAZ) verpflichtet, aber kurz vor seinem geplanten Unteroffizierslehrgang hat man ihm den Anwärterstatus aberkannt. Seit dieser Zeit läuft es bei ihm ziemlich „unrund“. Dennoch trägt er stets ein Lächeln auf den Lippen. Er war schon in fast allen Teileinheiten unserer Batterie, und ist nun bei uns als Dauer-Wachsoldat gelandet. Vier Stunden Wache, vier Stunden Bereitschaft und vier Stunden Wachfrei. So ist sein Tagesablauf für die komplette Schicht. Weil er so ganz anders tickt, ziehen ihn seine Mannschaftskameraden öfter auf und machen sich ihren Spaß mit ihm. Freunde oder Kumpel hat er nicht, aber offensichtlich fühlt er sich trotz allem in seinem Einzelgänger-Dasein und mit seiner Situation zu frieden. Morgens, nach seiner Wache, geht er immer nach draußen und macht gymnastische Übungen. Hierzu verwendet er die Sandsäcke, die auf den Splitterschutzwänden liegen. Neulich hat ihm der Chief-Maintenance einen Befehl gegeben, den er strikt verweigerte. Er sollte beim Malen helfen, d.h. Rost entfernen und die Stellen mit olivgrüner Farbe überpinseln. Darauf sagte er schlicht, „Sie sind nicht mein Wachvorgesetzter, und können mir keine Befehle erteilen“. Formal nach der Vorgesetztenverordnung mag das wohl richtig sein, dass der Wachsoldat nur dem Wachvorgesetzten unterstellt ist. Aber hier in der Stellung ticken die Uhren anders als in einer Kaserne. Aber Oberleutnant Oscar als OvWA wusste sofort Rat und beendete kurzerhand seinen Wachdienst, und schon musste Lohr den Befehl ausführen. Allerdings hatte er noch einen Einwand. Die Farbe würde zu stark Gasen und seine Gesundheit gefährden. Daraufhin ordnete der Chief an, Lohr solle beim Streichen die ABC Schutzmaske aufsetzen. Tjaaa, da gingen beim Gefreiten die Argumente aus und er fügte sich in sein Schicksal.


Von Südwesten kommen immer mehr Wolkenberge auf uns zu. Das Wetter schlägt um. Durch den verrosteten Maschendrahtzaun sehe ich einen Bauern mit seinem Trecker und Ladewagen, keine 500 Meter von der Stellung entfernt, Heu einfahren. Er hat wohl den Wetterbericht gehört und will seine Ernte noch vor dem Regen reinbringen. Das Heu duftet wunderbar. Es ist jetzt richtig schwülwarm, kein Lüftchen regt sich. Eine Feldlerche singt am Himmel und weiter entfernt dreht ein Bussard auf Beutefang majestätisch seine Runden. Ich gehe wieder rein. Langeweile macht sich breit. Vielleicht sollte ich mal ein gutes Buch lesen. Hier findet man allerdings nur Hefte, die Praline, Schlüsselloch und bestenfalls einen Playboy. Zurück im Unteroffiziersraum schalte ich das Transistorradio ein. Mal schauen, was gerade im Radio läuft. Vader Abraham trällert mit seinen Schlümpfen. Und genau in diesem Moment kommt Tango Tango rein. „He Alter, was hörst du da für einen Schrott. Mach bloß den Mist aus. Da hast du vollkommen recht Theo, und so was ist zurzeit auf dem vierten Platz der deutschen Hitparade. Unglaublich!“


17.00 Uhr, Abendessen, jeder so wie er es will. Meistens essen wir in unserem Uffz-Raum zu dritt am Tisch. Der Platz reicht gerade mal so. Sind wir zu viert, sitzt einer auf dem Bett. Ich will mich gerade langmachen, da ertönt die Sirene. Schon sind wir alle auf den Beinen und laufen zum Interconnection Building. Oberleutnant Oscar steht grinsend mit der Stoppuhr in der Hand an der Tür und ruft uns zu: „Wir rastet, der rostet. An die Gewehre“. Schon sind wir alle in den Trailern verschwunden und beginnen den 20-Minuten-Drill. „Hold Interlock“, Spannung prüfen, UV- Deckenbeleuchtung anknipsen, Schränke aufmachen. Die eingefleischte Routine funktioniert fabelhaft. Nach gut einer Stunde sind wir mit allen Checks durch und können Feierabend machen. Am späten Abend beginnt es zu regnen.





02. Juli 1978


Als wir Montagmorgen nach dem Frühstück wieder unserer gewohnten Arbeit nachgehen, müssen wir die Antennen-Checks im strömenden Regen machen. Die Abkühlung durch den Wetterwechsel tut gut. Im Unterkunftsgebäude läuft das Revierreinigen jetzt auf vollen Touren für die Kameraden, die nicht am Waffensystem gebraucht werden. Alles muss auf Hochglanz gebracht werden, weil heute Schichtwechsel ist. Der Flur wird gebohnert, der Waschraum und die Toiletten geschrubbt, die Schlafräume gewischt. Sollte die aufziehende Crew ein Revier schmutzig vorfinden, muss von uns nachgereinigt werden. Das ist ungeschriebenes Gesetz, kommt aber so gut wie nie vor. Alle wollen pünktlich und ohne Verzögerung raus aus der Stellung. Jeder spürt die nun schon fast 70 Stunden Dienst in den Knochen und sehnt sich nach Erholung


Der Bus bringt gegen 08.00 Uhr Soldaten in die Stellung, die hier Tagesdienst versehen. Es ist auch die neue AAP Crew dabei. Die 12 jungen Soldaten machen hier ihre Ausbildung am Arbeitsplatz und haben heute Morgen bei Oberfeldwebel „Daddy“ Protz, theoretischen Unterricht. Es gibt unter den Feldwebeln noch einen Mogli und einen Lemmy, den Bücherwurm. So einen Spitznamen muss man sich hier erst erarbeiten. Ich habe noch keinen.

Nachdem wir mit allen Checks fertig sind, schaue ich mir das Gelände an, auf dem im nächsten Monat mit dem Bau des stationären HIPARs begonnen werden soll. Direkt neben der Generatorenhalle sollen eine Antenne und zwei neue Hallen aufgebaut werden. Die Fundamente sind schon mit Beton gegossen worden. Das Hipar ist auch ein Rundumsuchradargerät wie das Lopar, aber mit größerer Leistung und weiterer Radarsicht.


Der Vormittag vergeht ohne besondere Ereignisse. Vor dem Unterkunftsgebäude steht auf dem Parkplatz der gelbe Ford Capri von Hauptmann Fiesel, unserem Zugführer. Also ist er auch schon in der Stellung. Vielleicht fährt er die nächste Schicht als BCO. Ich schaue noch schnell in das Wachlokal und merke sofort, dass hier die Stimmung auf dem Tiefpunkt ist. „Mensch Freddy, was ist los“? „Ach hör bloß auf, der Fiesel schon wieder. Kommt vor`s Tor gefahren, steigt aus. Ich geh hin, naja du weißt doch, der hat doch die Macke, dass er von uns genauestens kontrolliert werden will. Er hält mir auch schon seinen Truppenausweis vor die Nase. Ich vergleiche die Daten mit dem Zutrittskontrollbuch. Alles in Ordnung, sage ich, und mache das Tor auf. Er fährt rein. Als er aus dem Auto steigt, ruft er mich zu sich. Und weißt du was er mich dann fragt? Wie seine PK lautet. Der spinnt doch. Meint der wirklich, dass ich sämtliche Personenkennziffern auswendig lerne. Dann hat er mich noch richtig rund gemacht und ist im BCO-Raum verschwunden“. „Tja, unser Hauptmann, bei dem weiß man nie, woran man ist“. „Mach dir nichts draus, Freddy. Hast es gleich geschafft“.


Die neue Crew ist pünktlich kurz vor 12.00 Uhr da und es erfolgt die Übergabe. Wir berichten von unserem ORE und den technischen Problemen am Samstag. Ich gehe kurz bei Oberleutnant Oscar ins BCO Zimmer und melde die B-Crew ab. Er spricht gerade mit Leutnant Gärtner und winkt nach den ersten Wörtern ab. Tschüß Uffz., und schwupps bin ich wieder draußen. „Alles Aufsitzen“, und schon entern wir den wartenden Bus mit unseren Seesäcken und dem Gerödel auf den Schultern.


Unser „Manni“ fährt uns wieder zurück in die Kaserne, vorbei an Wiesen mit friedlich grasenden schwarzbunten Kühen. Ich glaube, Manni ist heute nicht gut drauf, weil er so still ist und sich noch nicht einmal über die ausgeleierte, knirschende Gangschaltung ärgern kann. Naja, ist ja auch Montag. Hat bestimmt das ganze Wochenende in der Disco durchgetanzt und zentnerschwere Mädels gestemmt. Wir sind auch ganz still, und jeder freut sich auf den freien Nachmittag. Ich werde nach dem Essen und nachdem ich die Crew beim Batteriefeldwebel abgemeldet habe gegen 13.00 Uhr nach Hause fahren. Die meisten meiner Kameraden können das nicht. Ihr Zuhause ist weit weg, und deshalb können sie heute noch nicht fahren, denn Dienstag, Mittwoch und Donnerstag ist für unsere Kampfbesatzung dienstplanmäßig Tagesdienst angesetzt worden. Das ist grundsätzlich lt. Routinedienstplan nach jeder Wochenendschicht der Fall, aber die Tagesdienste werden auch oft gestrichen und zum Überstundenabbau genutzt. In dieser Woche leider nicht. Als ich mit meinem Escort die Torwache passiere, fragt der Wachhabende noch, wie die Schicht denn so war und ob es irgendetwas Besonderes gab. Ich antwortete ihm mit den Worten:


„Nee, nee, es war nur eine ganz normale Wochenendschicht!“






 

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